Was macht eigentlich … Tomasz Hajto?

Kurz nach der Jahrtausendwende zählte Tomasz Hajto zu den besten Verteidigern der Bundesliga, heute arbeitet der Pole als TV-Experte in seiner Heimat. Im Interview mit schalke04.de blickt der 47-Jährige auf seine erfolgreiche Zeit im königsblauen Trikot zurück und erzählt dabei so manche Anekdote. Zudem verrät der zweimalige DFB-Pokalsieger, dass er im Jahr 2000 fast bei einem anderen Verein unterschrieben hätte.

Tomasz Hajto

Tomasz, wo erreichen wir dich gerade?
Ich sitze in Polen am Küchentisch und surfe im Internet, damit mir die Decke nicht komplett auf den Kopf fällt. Aufgrund der Corona-Pandemie darf man das Haus derzeit nur verlassen, wenn man Einkäufe tätigt, zum Arzt muss oder zur Arbeit fährt. Alles andere ist untersagt, die Polizei kontrolliert streng. Gesundheitlich ist bei mir zum Glück alles bestens. Allerdings ist es für den Kopf nicht ganz einfach, wenn man nur zu Hause sitzt.

Normalerweise bist du viel unterwegs.
Das stimmt, das bringt allein schon meine Tätigkeit für den polnischen Privatsender ‚Telewizja Polsat‘ mit sich. Dort bin ich TV-Experte für die Champions League und die Europa League. Mal im Studio, mal im Stadion, teilweise auch als Co-Kommentator. Meine letzten beiden Spiele vor der Zwangspause waren die vergangene Champions-League-Begegnung von Paris Saint-Germain und das Duell zwischen Real Madrid und Manchester City. Zudem besitzt der Sender auch die Rechte an den Partien der Nationalmannschaft.

Werden dort auch Bundesligaspiele live gezeigt?
Leider nicht. Aber ich hoffe sehr, dass ich trotzdem mit dem FC Schalke 04 in der kommenden Saison beruflich zu tun haben werde. Denn das würde bedeuten, dass die Mannschaft die Qualifikation für einen europäischen Vereinswettbewerb geschafft hätte. In den vergangenen Jahren habe ich bereits zahlreiche Schalke-Spiele als TV-Experte betreuen dürfen, damals noch für das polnische Eurosport, das nach wie vor die Rechte an der Bundesliga besitzt.

Wenn du einmal ein Teil dieses Clubs warst, dann lässt dich das nicht mehr los.

Tomasz Hajto

Unabhängig von deiner Rolle als TV-Experte: Verfolgst du das Geschehen bei deinem ehemaligen Verein noch immer aufmerksam?
Auf jeden Fall. Wie heißt es doch: ‚Einmal Schalker, immer Schalker‘. Wenn du einmal ein Teil dieses Clubs warst, dann lässt dich das nicht mehr los. Ich habe für einige Vereine in Polen gespielt, war danach in der Bundesliga auch für den MSV Duisburg und den 1. FC Nürnberg am Ball, habe in England für Derby County und den FC Southampton gespielt – aber über allem steht Schalke! Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an diese geilen Fans denke. Ich bin extrem dankbar, dass ich vier Jahre lang das königsblaue Trikot tragen durfte. Dabei wäre ich im Sommer 2000 fast woanders gelandet!

Erzähl!
Nach dem Abstieg mit dem MSV Duisburg wollte ich weiterhin in der Bundesliga spielen und hatte auch eine entsprechende Ausstiegsklausel in meinem Vertrag. Da meine Leistungen beim MSV stets ordentlich waren, gab es mehrere Interessenten. Mit dem 1. FC Kaiserslautern war ich bereits sehr weit. Otto Rehhagel, damals Trainer beim FCK, wollte mich unbedingt verpflichten. Ich saß schon fast im Auto, als mein Landsmann Tomasz Waldoch angerufen hat. Er stand damals bereits bei Schalke unter Vertrag und meinte, dass der letzte Macho der Bundesliga unbedingt mit mir sprechen müsse. Ich wusste sofort, was er meinte: Rudi Assauer wollte mich treffen!

Was passierte dann?
Na was wohl? Ich habe mich direkt mit Rudi Assauer verabredet. Ich kann mich noch heute an jedes Detail des Gesprächs erinnern. Er hat mich mit seiner Art sofort gepackt und mir aufgezeigt, was auf Schalke gerade passiert, welche Entwicklung der Club nehmen soll. Die Mannschaft war verstärkt worden, zum Beispiel durch Andreas Möller, dazu war der Bau der Arena bereits in vollem Gange. Ich spürte, hier bewegt sich was, der Mann meint es ernst. Zudem war Schalke eine große Nummer: die Fans, die Historie, einfach alles. Und auch der UEFA-Cup-Sieg lag ja noch nicht lange zurück.

Tomasz Waldoch und Tomasz Hajto

Wie lange hast du gebraucht, um eine Entscheidung zu fällen?
Die Entscheidung war bereits gefallen, als ich bei Rudi Assauer im Büro saß. Er fragte, ob ich dabei sei – und ich habe direkt eingeschlagen. Noch bevor wir überhaupt über irgendwelche finanziellen Dinge gesprochen hatten. Erst am Tag danach hat mein Berater mit Rudi Assauer die Vertragsdetails ausgehandelt. Das Geld war mir bei meiner Zusage auch zweitrangig. Ich hätte am liebsten sofort die Fußballschuhe angezogen und wäre auf den Platz gegangen. Das erste Training auf Schalke war dann sensationell, es waren tausende Fans vor Ort, um die Mannschaft zu unterstützen. Oder die Saisoneröffnung. An meinem ersten Schalke-Tag stand ich plötzlich auf der Bühne und musste gemeinsam mit meinen Mitspielern Schalke-Lieder singen. Die hatte ich zum Glück vorher gelernt (lacht). Mit dem Mikro in der Hand und den tausenden Fans spürte ich: Rudi Assauer hat nicht übertrieben mit seinen Ausführungen. Dieser Verein ist wirklich so. Vor dem ersten Pflichtspiel als Schalker im Parkstadion war ich bis in die Haarspitzen motiviert – und dann unterlief mir ausgerechnet bei meiner Premiere ein kleines Malheur.

Was war passiert?
Am 1. Spieltag der Saison 2000/2001 gegen den 1. FC Köln habe ich kurz vor dem Abpfiff ins eigene Tor getroffen. In diesem Moment war ich am Boden zerstört. Aber unser Keeper Oliver Reck hat mich direkt in den Arm genommen und aufgebaut. Dieser Moment war etwas ganz Besonderes. Am Ende war das Eigentor auch nicht entscheidend, wir gewannen das Spiel 2:1. Es war der Auftakt einer phänomenalen Saison …

… die am 19. Mai 2001 fast mit der Deutschen Meisterschaft gekrönt worden wäre!
Ich habe den ganzen Tag noch genau vor Augen. Als unser Spiel abgepfiffen wurde, erfuhren wir, dass die Bayern kurz vor dem Abpfiff ein Gegentor in Hamburg kassiert hatten und zurücklagen. Sergej Barbarez! Dieses Ergebnis hätte bedeutet, dass wir Meister sind. Und es hieß, das Spiel sei wenig später abgepfiffen worden. Diese Minuten waren der pure Wahnsinn. Unsere Fans sind auf den Platz gestürmt, viele harte Kerle haben vor Freude geweint. Und plötzlich erfährst du, dass das Spiel in Hamburg doch noch läuft. Der Rest ist bekannt.

Was heute allerdings fast jeder vergessen hat: Wir hätten mit einer Niederlage gegen Unterhaching sogar noch auf Platz drei abrutschen können.

Tomasz Hajto

Wie groß war die Enttäuschung?
Es tat weh, richtig weh. Aber wir hatten die Meisterschaft nicht an diesem Tag verloren, sondern in den Wochen zuvor. Am 31. Spieltag haben wir in Bochum nur 1:1 gespielt, hätten aber fünf oder sechs Tore schießen müssen. Dazu die Niederlage in Stuttgart am vorletzten Spieltag. Natürlich hatten wir alle gehofft, dass die Bayern in Hamburg patzen. Was heute allerdings fast jeder vergessen hat: Wir hätten mit einer Niederlage gegen Unterhaching sogar noch auf Platz drei abrutschen können. Das hätte bedeutet, dass das direkte Champions-League-Ticket futsch gewesen wäre. Damals musste der Dritte ja noch in die Qualifikation.

War euch das während der 90 Minuten bewusst?
Natürlich. Nach einer halben Stunde lagen wir gegen Unterhaching 0:2 zurück, kurz zuvor waren die Schwarz-Gelben im Parallelspiel gegen Köln in Führung gegangen. In der Blitztabelle waren wir plötzlich nur noch Dritter. In der Halbzeitpause hat damals daher kaum einer von der möglichen Meisterschaft gesprochen. Es ging zunächst einmal darum, gegen Unterhaching zu gewinnen, um Platz zwei zu verteidigen. Das ist uns mit dem 5:3-Sieg auch gelungen. Selbst ein Unentschieden Ende gereicht, da die Schwarz-Gelben nicht gewonnen hatten. Dass am Ende die Meisterschaft zum Greifen nah war, schmerzt aber heute noch sehr. Ich hätte es den Fans von ganzem Herzen gegönnt, da es ihr größter Traum ist. Sollte Schalke irgendwann einmal Deutscher Meister werden, fahre ich die 1100 Kilometer bis Gelsenkirchen mit dem Fahrrad, um zu feiern. In Schalke-Trikot. Und mit Fußballschuhen.

Die Saison habt ihr dennoch mit einem Titel beendet: dem DFB-Pokal. Welche Erinnerungen hast du an das Finale gegen Union Berlin?
Beim letzten Training vor der Abreise nach Berlin waren tausende Schalke-Fans auf dem Gelände, um uns aufzubauen. Das muss man sich mal vorstellen: Da kommen mehr Fans zu einem Training als zu manchem Spiel im deutschen Profifußball. Das gibt es wirklich nur auf Schalke. Als wir das Pokalfinale dann gewonnen hatten, war ich überglücklich. Zum einen, weil ich einige Jahre zuvor mit dem MSV Duisburg schon einmal im Endspiel stand und denkbar knapp aufgrund eines Last-Minute-Tores von Mario Basler gegen Bayern München verloren hatte, vor allem aber, weil wir dem Druck standgehalten hatten. Klar, wir waren der Bundesligist, Union Berlin der unterklassige Verein. Jeder hat den Sieg von uns erwartet, aber dann musst du nach den Erlebnissen der Vorwoche auch erst einmal liefern.

Tomasz Hajto mit Polizeimütze

Nach der Rückkehr aus Berlin seid ihr im Autokorso im Schritttempo vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof bis zum Parkstadion gezogen. Dabei hast du eine Polizeimütze getragen. Wie kam es dazu?
Ich war nicht mehr ganz nüchtern und habe einen Polizisten am Straßenrand gefragt, ob er mir seine Mütze geben kann. Das hat er dann gemacht – obwohl er im Dienst war. Aber er hat mir gesagt, dass auch er Schalke-Fan und einfach überglücklich sei. Die Party im Parkstadion war dann phänomenal. Wir hatten noch unsere Club-Anzüge an, haben zu späterer Stunde aber im Mittelkreis gegrätscht (lacht).

Drei Monate später wurde die ArenaAufSchalke, die seit 2005 VELTINS-Arena heißt, eröffnet. Und im ersten Pflichtspiel hast du direkt Geschichte geschrieben!
Das stimmt. Gegen Bayer Leverkusen ist mir nach zehn Minuten das erste Bundesligator überhaupt im neuen Stadion gelungen. Die Sekunden danach waren der Wahnsinn. Es war so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Ich musste mich auch kurzfristig kneifen, ob ich nicht träume. Denn der Treffer war mir per Kopf gelungen – das war eigentlich nicht meine Spezialität. Diesen Moment werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Zumal es auch mein erstes Bundesligator für Schalke war. Ich hatte in der Saison zuvor zwar schon zweimal geknipst, aber dabei soll ich beide Male im Abseits gestanden haben. Das stimmt aber nicht, ich habe mir die Szenen schon hunderte Male angeschaut und bleibe dabei, dass beide Tore hätten zählen müssen.

In deinen vier Spielzeiten auf Schalke hast du wettbewerbsübergreifend 141 Spiele bestritten und dich dabei in die Herzen der Fans gespielt. Hast du eine Erklärung für die Zuneigung der königsblauen Anhänger dir gegenüber?
Ich denke, sie haben gesehen, dass ich mir in jeder einzelnen Sekunde den Ar… aufgerissen habe. Dass ich kein großer Techniker bin, war mir stets bewusst. Ich habe malocht und wusste, was ich kann und was ich nicht kann. Und ganz wichtig: Ich habe immer mit Herz gespielt! Meine Einstellung war immer: Du kannst ein Spiel verlieren, wenn der Gegner an diesem Tag besser war – aber du musst von der ersten bis zur letzten Sekunde gefightet und alles gegeben haben! Selbst starke Schmerzen haben mich nicht gestoppt. Ich erinnere mich noch an ein ganz spezielles Wochenende: freitags hatte ich eine mehrstündige Zahnoperation und war völlig durch, tags darauf stand ich dann 90 Minuten auf dem Platz und habe eine top Leistung gebracht. Die Anzahl der Spiele macht mich übrigens heute noch stolz. Denn wir hatten viele starke Defensivspieler im Kader – und ich habe mich durchgesetzt.

Ich habe malocht und wusste, was ich kann und was ich nicht kann. Und ganz wichtig: Ich habe immer mit Herz gespielt!

Tomasz Hajto

Was hat eure Mannschaft damals so erfolgreich gemacht? Schließlich seid ihr 2002 erneut DFB-Pokalsieger geworden!
Der Teamgeist war überragend. Das war aber auch eine Sache, auf die Rudi Assauer bei der Zusammenstellung der Mannschaft sehr geachtet hat. Es musste passen. Zudem hat jeder einzelne Spieler seine besonderen Fähigkeiten eingebracht. Mit elf Künstlern gewinnst du kein Spiel, du brauchst auch Arbeiter. Diese Mischung stimmte bei uns. Es fühlte sich teilweise an wie in einer großen Familie. Die Verbindung zwischen Rudi Assauer, Huub Stevens und seinem Trainerstab. Dazu das Funktionsteam und alle weiteren Mitarbeiter des Clubs – das war schon etwas ganz Besonderes!

Vor einigen Wochen hat der englischsprachige Twitter-Account eine ‚Elf des bisherigen Jahrhunderts‘ wählen lassen. Dabei hast du es ins Team geschafft und bildest gemeinsam mit deinem Landsmann Tomasz Waldoch die Innenverteidigung. Hast du davon etwas mitbekommen?
Die Umfrage habe ich gesehen und war am Ende mächtig stolz auf das Ergebnis. Denn es zeigt, dass die Fans mich nicht vergessen haben. Allerdings hätten auch die anderen Kandidaten, die zur Wahl standen, einen Platz im Team verdient gehabt. Jeder Einzelne war in seiner jeweiligen Zeit eine Stütze der Mannschaft.

Unvergessen sind bis heute auch deine langen Einwürfe.
Die waren eine meiner Spezialitäten, die ich in meinen Anfangsjahren als Profi in Polen entdeckt habe. Als Spieler von Krakau habe ich damals in der 90. Minute einen Einwurf fast bis an den zweiten Pfosten geworfen. Dort hatte unser Mittelstürmer gelauert und dann eingenickt. Kurz danach ist mir dieses Kunststück in der U21-Nationalmannschaft noch einmal gelungen. Die Trainer bei all meinen Stationen haben immer gesagt, dass ein Einwurf von mir gleichzusetzen sei mit einer Standardsituation. In der Bundesliga habe ich knapp 30 Tore mit einem Einwurf direkt vorbereitet. Eines davon im September 2000 im Auswärtsderby. Torschütze zum 4:0-Endstand war damals Ebbe Sand. Ein Wahnsinnstag. Übrigens: Ich habe keines meiner Derbys in meiner Zeit als Schalker verloren. Darauf bin ich noch heute mächtig stolz.

Langer Einwurf von Tomasz Hajto

Hast du heute noch Kontakt zu ehemaligen Mitspielern?
Klar. Vor einigen Tagen habe ich noch mit Ebbe Sand geschrieben und über die alten Zeiten geplaudert. Auch mit Jörg Böhme, Mike Büskens, Radoslav Latal und Gerald Asamoah tausche ich mich immer wieder aus, dazu natürlich Tomasz Waldoch und auch einige mehr. Andreas Möller zum Beispiel habe ich in meiner Funktion als TV-Experte mehrfach getroffen, als er noch Co-Trainer der ungarischen Nationalelf war. Auch Huub Stevens und ich schreiben uns ab und zu eine Nachricht. Regelmäßig Kontakt habe ich außerdem zu Seppo Eichkorn, der mittlerweile im Scouting auf Schalke arbeitet. Ihn kenne ich seit fast 25 Jahren, da er Co-Trainer beim MSV Duisburg war, als ich dort gespielt habe. Daran, dass ich damals in Deutschland gelandet bin, hat Seppo einen nicht unerheblichen Anteil.

Du hast in deinen vier Jahren auf Schalke vieles erlebt. Was ist deine schönste Erinnerung?
Ich bin stets hochmotiviert und stolz zum Vereinsgelände gefahren und hatte sportlich sowie menschlich überragende Mitspieler, mit denen ich zwei Titel erringen konnte. Dazu die ganze Leidenschaft der Fans. Deshalb ist es keine Phrase, wenn ich noch heute sage, dass ich mich zu 1904 Prozent mit dem FC Schalke identifiziere. Ich möchte keinen einzigen Tag missen.

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