Erinnerungstafel Wildenbruchplatz: „Ihr nehmt den Mond, die Sonne und die Sterne mit euch“

Am Donnerstag (27.1.) jährt sich zum 80. Mal die Deportation von über 500 Juden aus Gelsenkirchen nach Riga. Eine Gedenktafel wird künftig an das Schicksal der verschleppten Mitbürger erinnern, von denen ca. 450 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ermordet wurden. Zu verdanken ist die Tafel engagierten Fans des FC Schalke 04. Über die bemerkenswerte Geschichte ihres Engagements und das furchtbare Los von über 500 Menschen in den Grauen der NS-Zeit.

Gedenktafel Wildenbruchplatz

Die nur noch dünne Männerstimme aus den Lautsprechern der PA-Anlage erfüllt den Gemeindesaal der Neuen Synagoge in Gelsenkirchen. „Wir haben immer geglaubt, dass der nächste Tag nicht mehr für uns da ist.“ Rolf Abrahamsohn ist 96 Jahre alt, als er diesen Satz über seine späten Teenager-Jahre sagt. Die verbringt der Marler Junge im Konzentrationslager Riga, das er als einziges Familienmitglied überlebt. Geführt hat er das Zeitzeugengespräch mit Fans des FC Schalke 04. Sie haben eine Arbeitsgruppe namens „Erinnerungsort Wildenbruchplatz“ gegründet, welche die größte Deportation von Gelsenkirchener Juden erforschen und ins kollektive Gedenken zurückrufen will. Denn nur, wer vergessen ist, ist wirklich tot.

Die Entstehung des Projekts ist bemerkenswert: Seit 2017 organisiert die S04-Fanbetreuung gemeinsam mit dem Schalker Fanprojekt Gedenkstättenfahrten ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Eindrücke, die niemanden mehr loslassen. Auch die mitgereisten Königsblauen nicht. Sie wollen mehr tun, sich in der Erinnerungskultur aktiv engagieren. Zunächst entsteht daraus ein T-Shirt in limitierter Auflage, welches weiteres Engagement finanzieren soll. Es zitiert das Schalker Leitbild – „Schalker sind wir überall; manche von Herkunft, aber alle von Herzen“ – und ist umgehend ausverkauft.

Gedenktafel Wildenbruchplatz

Bei der Suche nach Projekten erwähnt Benjamin Munkert vom Schalker Fanprojekt die Bedeutung des Wildenbruchplatzes. Dr. Daniel Schmidt vom Institut für Stadtgeschichte erläutert bei einer Führung die Ereignisse rund um den 27. Januar 1942. Die Fans sind sich schnell einig: Den aus der Zivilgesellschaft fortgejagten und der beabsichtigten physischen Vernichtung zugeführten Mitbürgern wollen sie eine bleibende Erinnerung schaffen, sie wenigstens im übertragenen Sinn nach Gelsenkirchen zurückholen.

Zu den damals Ausgestoßenen gehören auch Schalker. Etwa der einst überaus angesehene Großmetzger Leo Sauer, der 1927 Ernst Kuzorra den Führerschein finanziert, ihn als Fahrer anstellt und somit Gedanken an einen Vereinswechsel im Keim erstickt; der nach der ersten Deutschen Meisterschaft 1934 vor lauter Freude ein Schwein blau und weiß anstreicht. Mit Sauer werden seine Frau Auguste und Sohn Werner deportiert. Allein der Junge wird überleben.

Sally Meyer und Julie Lichtmann, die ihr Textilgeschäft am Schalker Markt 1938 – auch unter Druck der Vermieterin, Schalkes Vereinswirtin Henriette Thiemeyer – verkaufen müssen. Der Profiteur ist Fritz Szepan, Regisseur der Schalker Elf und Kapitän der Nationalmannschaft. Beide, Meyer und Lichtmann, werden ermordet.

Gedenktafel Wildenbruchplatz

Im unseligen Zug sitzen ebenso der glühende Schalke-Fan Arthur Herz und Kurt Neuwald, bis dahin Inhaber eines beliebten Bettengeschäfts. Beide werden überleben. Herz gelingt dies, obwohl er sechs Konzentrationslager durchläuft, Neuwald, weil er sich auf einem Todesmarsch in den letzten Kriegstagen in einem Erdloch versteckt. Die NS-Schergen, die bei diesen Märschen willkürlich und impulsiv töten, suchen ihn, um ihn zu exekutieren, doch sie finden ihn nicht und ziehen weiter. Kurt Neuwald kehrt nach Gelsenkirchen zurück, obwohl 24 von insgesamt 26 Mitgliedern seiner Familie ermordet werden. Allein sein Bruder Ernst überlebt. Neuwald steht der Jüdischen Gemeinde vor und ist Zeit seines Lebens Zeugnis, dass der Wahn der Nazis von der „Ausrottung“ der Juden nicht aufgegangen ist. Seine Tochter Judith Neuwald-Tasbach leitet heute die Gemeinde in Gelsenkirchen.

Sie berichtet, dass Rolf Abrahamsohn und ihr Vater eng befreundet sind. Oft ziehen sie sich in einem Raum zurück. Es ist nicht zu hören, was sie besprechen, doch allein ihre Körpersprache verrät den Gram, den die Themen ihrer Gespräche bei beiden auslösen. Überlebende, die unvorstellbares erlebtes Grauen Zeit ihres Lebens bewältigen müssen. Abrahamsohn stirbt am 23. Dezember 2021 im Alter von 96 Jahren.

Gedenktafel Wildenbruchplatz

Die AG Erinnerungsort Wildenbruchplatz rekonstruiert Biografien wie jene beschriebenen und noch viel mehr. Unterstützt von den professionellen Historikern des Instituts für Stadtgeschichte (ISG), Mitarbeitern des Fanprojekts und der Geschäftsstelle des Vereins, will sie auch Täter ermitteln, die vor allem in den Reihen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) zu finden sind. Die AG gleicht zudem die Namen der geführten Listen ab, um Lebenswege und Schicksale der Deportierten zu ermitteln. Sie sichtet vorhandene Quellen, um mehr über Umstände zu erfahren. Der Einsatz ist beachtlich. Viele Stunden der Freizeit investieren die Anhänger, etwa für Ortstermine, um Zusammenhänge besser begreifen zu können. Thomas Schaal und Dirk Bredfeldt reisen hunderte Kilometer aus Berlin und Stade an, auch wenn sie es nicht mit dem Besuch eines Heimspiels verbinden können.

Gedenktafel Wildenbruchplatz

Im Zuge der Recherchen wird die Aufmerksamkeit auf eine weitere bemerkenswerte Quelle gelenkt: Werner Sauer, Sohn von Leo Sauer, hat ein Zeitzeugen-Interview gegeben, welches als Filmdokument verfügbar ist. 1918 geboren, ist er nach dem Krieg in die USA ausgewandert und lebt bis zu seinem Tod 1989 in Ohio. Das vierstündige, in englischer Sprache geführte Interview entsteht im Sommer 1984. Sauer berichtet darin von einer unbeschwerten Kindheit bis 1933: „Bevor Hitler kam, hatte ich nie das Gefühl anders zu sein.“ Dann wird er aus dem Gymnasium geworfen, das sich eilfertig nach dem „Führer“ umbenennt. Lange ahnen sie nicht die Gefahr, die von Hitler ausgeht, den sie nur verächtlich „Keh-lev“ nennen – das hebräische Wort für Hund: „Kläffer“. Schritt für Schritt werden Juden ab 1933 gezielt gedemütigt, entrechtet, isoliert und schließlich deportiert. Sauer berichtet, was sich die Betroffenen nach jeder dieser Repressalien verzweifelt einreden: „Das ist das Ende, es kann nicht schlimmer werden.“ Werner Sauer aber ist jung, selbstbewusst wie sein Vater und sportbegeistert. Er hält sich so fit, wie es geht. Vor allem dies sei neben „unglaublichem Glück“ für sein Überleben des Holocaust ein wichtiger Faktor gewesen. Er lässt sich auch nicht unterkriegen. „Ich habe nicht zu viele Regeln beachtet, wenn ich sie umgehen konnte.“

Bis unmittelbar vor der Deportation arbeitet er als Maurer, zuletzt in einem katholischen Krankenhaus. „Da berichtete ich der Mutter Oberin: ‚Ab morgen komme ich nicht mehr.‘“ Jene gibt bedauernd zurück: „Wie schade! Werden Sie zur Wehrmacht eingezogen?“ Sauer offenbart seine Religionszugehörigkeit, denn auch das Tragen des Gelben Sterns torpediert er, wo es geht. Die Replik der Ordensfrau geht ihm selbst Jahrzehnte später nicht aus dem Kopf: „Sie sagte – und sie meinte uns Juden allgemein: ‚Wenn ihr Deutschland verlasst, wird es hier sehr dunkel werden. Ihr nehmt den Mond, die Sterne und die Sonne mit euch.‘“

Mit der Gedenktafel am Wildenbruchplatz kehrt die öffentliche Erinnerung an sie alle endlich nach Gelsenkirchen zurück.

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