Das Spiel meines Lebens: Als Olaf Thon das Parkstadion zum Beben brachte

Es gibt diese Spiele, die so besonders sind, dass sie für immer unvergessen bleiben – eines davon trug sich am 2. Mai 1984 zu. Der FC Schalke 04, damaliger Zweitligist, empfing im DFB-Pokal-Halbfinale den FC Bayern München. Ein verrücktes Match, dem der gerade 18 Jahre alt gewordene Olaf Thon in der Schlussminute der Verlängerung die Krone aufsetzte. Im Interview mit schalke04.de blickt die S04-Legende auf das Spiel seines Lebens zurück.

Olaf Thon

Olaf, du hast zahlreiche Erfolge gefeiert, wurdest Weltmeister, UEFA-Cup-Sieger, dreimal Deutscher Meister und zweimal DFB-Pokalsieger. Ist das Pokal-Halbfinale am 2. Mai 1984 gegen Bayern München trotzdem das Spiel deines Lebens?
Ja, auf jeden Fall. In der Saison habe ich in Berlin beim 3:2-Sieg drei Tore geschossen, da habe ich schon von mir reden gemacht. Aufgrund des 6:6-Unentschiedens gegen die Bayern ist auch Franz Beckenbauer, der später DFB-Teamchef wurde, auf mich aufmerksam geworden. Im Dezember 1984 habe ich dann mein erstes Länderspiel auf Malta absolviert. Für mich war das 6:6, als einzelnes Spiel gesehen, das Spiel meines Lebens, auch wenn ich gegen England bei der WM 1990 den entscheidenden Elfmeter im Halbfinale verwandelt und 1997 in San Siro den UEFA-Pokal in die Höhe gereckt habe.

Einen Tag vor dem 6:6 bist du 18 Jahre alt geworden. Wie hast du deinen Geburtstag so kurz vor diesem wichtigen Spiel gefeiert?
Im Vorfeld hat sich viel darum gedreht, wie und ob ich meinen Geburtstag feiern werde. Da ist mir unser Manager Rudi Assauer zur Seite gesprungen, der seinen Geburtstag am 30. April für mich geopfert hat. Er hat an der Theke ab 18 Uhr in der Kneipe in Beckhausen, in der wir gefeiert haben, Bier ausgeschenkt. Um 2 Uhr morgens war die Feier zu Ende. Am nächsten Tag war Training, wir sind ins Trainingslager gefahren. Am 2. Mai fand dann dieses unvergessliche Spiel statt.

Alfred Hitchcock hätte kein besseres Drehbuch schreiben können.

Olaf Thon

Ihr habt nach zwölf Minuten mit 0:2 in Rückstand gelegen. 60 Sekunden später traf Thomas Kruse. Ein ganz entscheidender Treffer, damit ihr wieder an euch glaubt?
Wenn man nach so kurzer Zeit gegen einen so übermächtigen Gegner bereits mit 0:2 zurückliegt, dann ist so ein Treffer sehr wichtig. Es war ein fürchterliches Wetter mit Regen und Sturm. Viele Zuschauer sind während des Spiels gegangen und wiedergekommen. Thomas‘ Treffer war der Türöffner für unsere Rückkehr in dieses Match. Ab dem Tor zum 1:2 war es ein Spiel mit offenem Visier. Keiner wusste, welche Verrücktheit sich in diesem Match noch ereignen wird. Alfred Hitchcock hätte kein besseres Drehbuch schreiben können.

Du hast drei Tore erzielt, alle auf unterschiedliche Art und Weise. Hast du in dieser Partie Fußball-Deutschland deine Variabilität bewiesen?
Ich bin ein Allrounder. Als ich auf Schalke anfing, habe ich im linken Mittelfeld gespielt. Ich habe in der Zweitligasaison, damals noch mit 20 Mannschaften, alle Spiele von Anfang an gemacht. In jungen Jahren habe ich als linker Verteidiger angefangen, da ich beidfüßig bin. Denn als ich mit neun Jahren mit einem Tennisball vor dem Haus gespielt habe, habe ich mir am rechten Fuß den Zeh gebrochen. Als ich wieder laufen konnte, habe ich alles mit links gemacht. Als Verteidiger habe ich das Zweikampfverhalten gelernt. Das hat mir später sehr geholfen, als ich im defensiven Mittelfeld oder als Libero gespielt habe, um dort die Bälle abzufangen und Konter einzuleiten. Diese Flexibilität hat mir für meinen Karriereweg sehr geholfen.

Olaf Thon

Es hat an diesem Abend stark geregnet, es wurde ein richtiger Fight. Hat euch das womöglich in die Karten gespielt?
Es lag nicht am Wetter, dass wir kämpferisch so stark waren. Wir haben zwar einige Kämpfer, aber auch sehr gute Techniker wie Bernd Dierßen im Team gehabt und spielerisch zu gefallen gewusst. Individuell waren wir sehr stark besetzt. Ich sehe da Parallelen zur Eurofighter-Mannschaft, bei der jeder Einzelne auf seiner Position so stark war, dass er mindestens so gut war wie sein Gegenspieler. Ingo Anderbrügge mit seinem harten Schuss und seinen präzisen Standards, Johan de Kock und Thomas Linke mit ihrer Kopfballstärke, Jens Lehmann als bester Torwart, Jiri Nemec, der den Ball am Fuß halten konnte, Marc Wilmots mit seiner Kampfkraft – das war eine ideale Mischung. Und solch eine Mischung hatten wir auch 1984 in unserem Team.

Nach dem 1:2 hast du die nächsten beiden S04-Tore sowie den letzten Treffer für Schalke erzielt. Nimm uns doch mal mit und beschreibe die Situationen.
Beim ersten Tor zum 2:2 habe ich den Ball in der Luft angenommen. Klaus Augenthaler hat gedacht, dass ich schieße. Stattdessen habe ich mir die Kugel von links auf den rechten Fuß gelegt und flach unten links in die Ecke getroffen. Jean-Marie Pfaff kam ein bisschen zu spät. Bei meinem zweiten Tor hat Mathias Schipper, ein echter Fighter, der damals schon den Weg als Außenverteidiger nach vorne gesucht hat, eine präzise Flanke geschlagen. Pfaff ist nicht aus dem Tor gekommen und ich musste, nachdem ich sehr hochgesprungen bin, nur noch einnicken. Vor dem 6:6 war der Ball nach einem abgewehrten Freistoß eine gefühlte Ewigkeit halblinks in der Luft und ich habe ihn mit dem linken Fuß volley ins lange Eck geschossen. Danach stürmten alle auf mich drauf – zum Glück habe ich überlebt (lacht).

Olaf Thon

In der 112. Minute das 4:5, in der 115. Minute das 5:5, in der 118. Minute das 5:6. Glaubt man nach so einem Wechselbad der Gefühle durchgehend an seine Chance?
Es war ein Spiel, das von Freude, Euphorie und der Atmosphäre der Zuschauer getragen wurde. Wir haben nicht besonders mit den Rückschlägen gehadert, da wir von Anfang an der klare Außenseiter in dieser Begegnung waren. Wir wussten immer, dass die Bayern mit ihren exzellenten Stürmern Tore erzielen können. Wir haben durchgehend an unsere Stärken geglaubt und haben nicht viel nachgedacht. Wir waren im Tunnel und haben alle Negativerlebnisse ausgeblendet.

Du hast in einem Interview verraten, dass der damalige Schiedsrichter Wolf-Günter Wiesel dir gesagt hat, dass ihr noch diesen einen letzten Angriff habt.
Am Mittelkreis, bevor es den Freistoß gab, standen wir etwa fünf Meter auseinander. Ich spielte den Ball nach außen und er sagte zu mir: „Olaf, komm, noch einen Angriff.“

Wollte er insgeheim, dass ihr dieses grandiose Spiel nicht verliert?
Natürlich. Ich habe ihn 2002 auch zu meinem Abschiedsspiel eingeladen. Er hat diese Szene weit nach Mitternacht noch mal ähnlich erklärt.

Damals gab es kein Elfmeterschießen. Im Nachhinein ärgerlich?
Wenn es ein Elfmeterschießen gegeben hätte, bin ich mir sicher, dass wir sehr wahrscheinlich den Platz als Sieger verlassen hätten. Nach dem Ausgleich zum 6:6 war die Euphorie so groß, dass es nur einen Sieger hätte geben können. Der Underdog hat im Elfmeterschießen nichts zu verlieren. Die Chancen hätten durch die Umstände mindestens bei 70:30 für uns gestanden. Ich glaube, ich hätte den Ball mit der Hacke ins Tor geschossen (lacht).

Dieses Spiel wird noch in 100 Jahren gezeigt werden.

Olaf Thon

Das Wiederholungsspiel in München eine Woche später habt ihr leider mit 2:3 verloren. Trübt das dieses 6:6 in irgendeiner Form?
Nein, das tut es nicht. Das 6:6 bleibt auch deswegen in den Geschichtsbüchern, weil wir letztlich ausgeschieden sind und den Pokal nicht gewonnen haben. Pokalsieger, auch überraschende, gibt es in jedem Jahr. Aber ein 6:6 im Halbfinale gab es noch nie und wird es wohl nie wieder geben. Dieses Spiel wird noch in 100 Jahren gezeigt werden.

Legendär ist auch das Interview im Anschluss mit Rolf Töpperwien, als ihr von der Menschenmasse fast erdrückt werdet. Dort hast du gesagt, dass du in Bayern-Bettwäsche schlafen würdest.
Er mich mit der Frage überrumpelt. In Bayern-Bettwäsche habe ich geschlafen, als ich zehn Jahre alt war. Diese Antwort finde ich aber gar nicht schlimm. Manchmal vermisse ich die Interviews, die ad hoc nach dem Spiel geführt werden und bei denen kleine Ausreißer passieren. Das ist im Nachhinein viel schöner.

Hast du mit Rolf Töpperwien später über dieses Interview noch mal gesprochen?
Unzählige Male! Wir haben uns danach noch sehr häufig gesehen. Auch wenn ich beispielsweise mit Thomas Kruse in der Traditionself zusammenspiele, dann fällt immer irgendwie dieses 6:6. Genauso wie auf Feiern mit anderen ehemaligen Mitspielern. Es kommen immer wieder diese schönen Erinnerungen hoch. Und es ist vollkommen egal, dass wir im Wiederholungsspiel ausgeschieden sind.

Olaf Thon

Wie ist es nach dem Spiel weitergegangen?
Ich kam erst eine gute halbe Stunde nach dem Abpfiff in die Kabine. Es wurde gesungen – wir haben auf Schalke ja ein großes Liedgut. Danach bin ich zu meiner Freundin und mittlerweile Frau Andrea – seit mehr als 30 Jahren sind wir verheiratet – gefahren. Im Wohnzimmer ihrer Eltern waren rund 20 Freunde und Bekannte. Ich habe sie noch kurz begrüßt. Danach bin ich nach Hause gefahren, am nächsten Tag war Training und das Leben ging weiter.

Du bist in Gelsenkirchen geboren. Wie kam es dazu, dass du als Kind Bayern-Fan wurdest?
Weil Gerd Müller im WM-Finale 1974 das entscheidende Tor für Deutschland gegen die Niederlande geschossen hat. Als Fan von Gerd Müller wurde ich auch Fan der Bayern. Da ich in Horst geboren wurde, in Beckhausen lebte und wiederum für Horst in der Jugend gespielt habe, bin ich natürlich auch Schalke-Fan gewesen. Bis zum 14. Lebensjahr stand an erster Stelle für mich Bayern München. Das hat sich dann gedreht. Später in München für sechs Jahre zu schnuppern, in der Zeit Weltmeister und dreimal Deutscher Meister zu werden, um dann zurückzukommen und mit den Eurofightern den Titel zu holen, war eine schöne Geschichte. Die Rückkehr war beschwerlich. Ich kam nach einem Achillessehnenriss zurück auf Schalke, keiner wusste genau, ob ich wieder fit werde. Rudi Assauer hatte das Vertrauen und mich zurückgeholt. Und das für eine damals stattliche Ablöse von drei Millionen Mark – erst recht, wenn man bedenkt, dass ich acht Monate nicht gespielt habe.

Die Highlights des 6:6 gibt’s auf YouTube zu bestaunen. Schaust du sie dir noch manchmal an?
Ja, ich gucke mir auch gerne weitere Tore an. Es ist immer wieder schön zu sehen. Ab und zu schaue ich rein und sehe mir an, wie ich damals so gekickt habe.

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