Klaus Hartenstein: Nach-Spiel-Zeit

Es gibt Geschichten, die wirken völlig aus der Zeit gefallen. Klaus Hartensteins ist eine solche. Anfang der Fünfzigerjahre hütet er das Schalker Tor. Weil mit dem Fußballergehalt keine großen Sprünge drin sind, beschreitet er einen solideren Karriereweg, der 1987 noch mal zur königsblauen Brust führen soll: als Trikotsponsor. Am Dienstag (24.3.) wird Hartenstein 90 Jahre alt.

Klaus Hartenstein

Die Uhr im Kreisel-Büro steht auf Espresso-Zeit, als sich das Telefondisplay rührt. Unbekannte Nummer aus dem Süden der Republik. „Hartenstein“, klärt die feste Stimme am anderen Ende auf. „Ich war mal Torwart beim FC Schalke 04.“ Der 89-Jährige rafft seine Vita und möchte wissen, ob Interesse besteht, anlässlich des Geburtstags einen kleinen Artikel zu veröffentlichen. Was für eine Frage …

Königsblau besteht gerade 26 Jahre, da kommt Klaus Hartenstein in Breslau zur Welt. Aus dem oberschlesischen Cosel zieht er mit seinen Eltern 1934 nach Mannheim, wohin der Vater als Diplom-Ingenieur versetzt worden ist. Sein Sohn verliert das Herz früh an den Fußball und möchte unbedingt in einem Verein bolzen. Das Familienoberhaupt kann sich dafür jedoch nicht erwärmen und zeigt kein Pardon. Erst eine Tragödie ebnet dem Jungen einen Weg. Im tödlichen Toben des Zweiten Weltkriegs wird der Vater als Reserveoffizier an die russische Front geschickt und soll nicht mehr zurückkehren.

Nach Einkehr des Friedens und ohne jene gestrenge Stimme im Ohr nimmt sich der Teenager die Freiheit, einem Fußballverein beizutreten. Auch für den Angriff reichen seine Talente, doch das Tor liegt ihm mehr. Mit der Jugend des SV Waldhof Mannheim wird er Süddeutscher Vizemeister, wechselt zum pfälzischen VfL Neustadt. Vertragsspieler kennt die Oberliga noch nicht. 120 D-Mark im Monat plus freies Wohnen, Essen und Schulgeld sind aber ein Anfang.

Klaus Hartenstein

Größte Stärke des inzwischen 19-Jährigen ist die Strafraumbeherrschung. Mit 1,84 Metern gehört er für damalige Verhältnisse zu den Längsten. 70 Jahre später wird er sich wundern, warum manche Vertreter seiner Zunft das Herauslaufen scheuen. „Ich habe mich immer gefreut, wenn ich die Bälle abfangen konnte“, betont er. „Und heute haben es die Torhüter ja leicht und erhalten Schutz vom Schiedsrichter. Wenn der Gegner bei uns kräftig reinging, konnte er den Torwart mit Ball ins Gehäuse schieben.“

Die Paraden sprechen sich schnell bis zum großen Nachbarn herum. Nach nur einem Jahr klopft der 1. FC Kaiserslautern an. Hartenstein unterschreibt zur Saison 1950/1951 beim Südwest-Serienmeister um Idol Fritz Walter, kommt jedoch kaum an Karl Adam vorbei. Und manchmal steht auch das Selbstbewusstsein im Weg: „Die Absatztricks vom Fritz Walter, die kann ich auch“, lässt er beiläufig fallen. Heute weiß er: „Das hat mir bei den Kollegen nicht gerade geholfen.“ Mit dem späteren Weltmeister von 1954 wird er trotzdem noch lange Kontakt halten.

Kurzzeitig scheint sich auf dem Betzenberg alles zu fügen. Nach Streitigkeiten mit dem Verein kommt sein Konkurrent im Kasten abhanden. Der FCK zieht ins Endspiel um die Deutsche Meisterschaft ein. Gegen den SC Preußen Münster soll Hartenstein ran, rennt aber zwei Wochen zuvor in ein Motorrad: Schulter ausgekugelt, Feierabend. Laut Reglement dürfen sich nur eingesetzte Spieler offiziell mit einem Titel schmücken. 2:1 siegen die „Roten Teufel“ ohne ihn. Hölle!

Vermutlich hätte ich auch ohne Geld für ihn gespielt.

Klaus Hartenstein

Blau und Weiß ist ja der Himmel nur. Am Tag der Schalker Vereinsgründung ist Klaus Hartensteins Mutter zur Welt gekommen – 4. Mai 1904. Indes nicht der Grund, warum er nach dem verpassten Pokalfinale auf Königsblau zugeht. Sechs Meisterschaften hat der S04 vor dem Krieg gefeiert und nach dem Wiederaufbau gerade erstmals die „Westdeutsche“ zurückgeholt. „Dieser Verein hat mich gereizt“, erklärt er. „Vermutlich hätte ich auch ohne Geld für ihn gespielt.“ So weit kommt’s nicht. 320 Mark plus ein paar Nebengeräusche erhalten die Vertragsspieler.

Von der ersten Gage gönnt er sich einen hellen Sportmantel und erlebt am eigenen Leib, was im 21. Jahrhundert nur noch als Ruhrpottromantik gepflegt wird: Auf den 500 Metern von der Straßenbahnhaltestelle bis zu seiner Wohnung an der Tannenbergstraße lässt die Zeche Consol grüßen, sodass er das verrußte Kleidungsstück direkt der Reinigung übergeben kann.

Durch die Glückauf-Kampfbahn weht 1951 der Ruhm vergangener Tage. Der Trainer heißt Fritz Szepan, Ernst Kuzorra fungiert als Mannschaftsbetreuer. In ihren Schatten darf sich der Neue als Nummer eins fühlen und in zwölf Oberliga-Duellen parieren. Als Nummer zwei hinter Rot-Weiss Essen startet Schalke in die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft, aber das Team um Berni Klodt, Paul Matzkowski und Hermann Eppenhoff belegt lediglich den vierten und damit letzten Rang.

Klaus Hartenstein

Fragt man Klaus Hartenstein nach dem Zeitgeist rund um den Rasen, muss er schmunzeln: „Es gab ja zum Beispiel keine Verwarnungskarten. Wenn einer was Böses gemacht hat, ist er eben vom Platz geflogen. Wechselmöglichkeiten bestanden ebenfalls nicht. Deshalb haben wir jedem, der angeschlagen aus dem Spiel wollte, gesagt: ,Mach mal schön weiter!‘“ Und drum herum die Anhängerkulisse mit Anzug, Krawatte und Hut. „Wenn da jemand wie heute ein Trikot angehabt hätte, wären wir vom Glauben abgefallen.“

Was gemeinhin Training heißt, nennt er: zweimal die Woche zehn Runden um den Platz laufen und drei Gymnastikübungen. Gut für ihn, denn so lässt sich parallel eine Lehre beim Gelsenkirchener Herrenausstatter Overbeck & Weller absolvieren. Ein seriöser Vorbote fürs Leben danach. Verhandlungsgeschick bringt er schon mal mit: Beim Vorrundenduell gegen den Hamburger SV platzt ein Juwelier in die Kabine und verspricht: „Wer heute ein Tor schießt, kriegt eine goldene Uhr!“ Da fragt der Torhüter: „Und was bekomme ich?“ – „Du bekommst auch eine, wenn du den Kasten sauber hältst.“ Ergebnis: drei zu null und eine goldene Uhr. „Die habe ich bis heute“, betont Hartenstein. „Und sie läuft noch.“

Die zweite und bereits letzte Saison mit den Knappen läuft 1952/1953 kürzer als erhofft. Der S04 beschließt die Oberliga als Sechster, der Keeper darf sich lediglich fünfmal beweisen. Im Freundschaftsspiel gegen den VfB Stuttgart kugelt er sich erneut einen Arm aus und muss unters Messer. In Hennef montieren die Ärzte ein Schienbeinstück in die Schulter. Noch schmerzhafter ist der Blick in die Zeitung, denn laut dieser soll Schalke Torwart-Legionär Bert Trautmann von Manchester City Avancen machen. Hartenstein hechtet wenige Wochen später schon wieder für die Reserve nach dem Ball, doch gedanklich hat er seinen Verein da bereits fallengelassen. Ohne die Verletzung wäre er wohl geblieben. Womöglich hätte er sogar 1958 den Deutschen Meistertitel an den Schalker Markt zurückgebracht.

Herr Herberger, für 320 Mark im Monat zerreiß ich mich auch nicht.

Klaus Hartenstein

Hartenstein ist kein Freund von „Was wäre, wenn“-Geschichten. Vor eineinhalb Jahren ist er schwer gestürzt – Schädel-Hirn-Trauma, Intensivstation, Wirbel ersetzt: „Daran denke ich nicht mehr. Genauso wenig habe ich damals gegrübelt, wohin mich der Weg geführt hätte.“

Für zwei Jahre wechselt er zum 1. FC Köln, wo er zumeist dem niederländischen Nationaltorhüter Frans de Munck bei der Arbeit zuschauen muss, etwa im verlorenen Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart. Es wäre die letzte Titelchance gewesen, denn Hartenstein schließt seine Vita mit elf Oberliga-Partien und einem Pokaleinsatz für die Rheinländer.

Die Frage nach dem Warum beantwortet ein knapper Dialog vom DFB-Lehrgang, zu dem das Talent 1952 eine Einladung erhalten hat. Bundestrainer Sepp Herberger höchstpersönlich bescheinigt ihm in seinem Mannheimer Dialekt: „Se habe e riese Talent, aber Se könne sisch net zerreiße.“ Des Torhüters Antwort: „Herr Herberger, für 320 Mark im Monat zerreiß ich mich auch nicht.“ Womit das Nationalmannschaftskapitel zugeklappt war.

Mit nur 25 Jahren verabschiedet sich Klaus Hartenstein in den Kicker-Ruhestand, um etwas anderes zu erlernen. Den Fußball, so sagt er, hat er danach nicht mehr vermisst. „Zur Ausbildung Jugendlicher war er damals gut, als Beruf weniger einträglich. Am Ende sind es aus meiner aktiven Zeit doch immer dieselben 20 Namen, von denen man noch immer spricht. Viele andere sind später untergegangen.“

Klaus Hartenstein

Doch was nun? In Lautern wollten sie ihn mal zum Reporter machen. Einer Übertragung mit Rudi Michels folgten Probeaufnahmen beim Westdeutschen Rundfunk. Die Profis bescheinigen ihm, wie gut er sich mit allen Sportarten auskenne, aber ein Jahr Schauspielunterricht sei unabdingbar, weil seine Stimme nicht wandlungsfähig genug sei. Darauf hatte er keine Lust. Eins dieser Was-wäre-wenns.

In Gelsenkirchen hat Klaus Hartenstein die Tochter eines  Rundfunkhändlers geheiratet. Die Ehe geht in die Brüche, doch die Branche floriert. Der Ex-Keeper wechselt vom Fußball in eine andere Unterhaltungsbranche. Für die Elektronikfirma Nordmende vertreibt er Fernseher, Radios sowie Plattenspieler in Essen und Duisburg, erst via Einzel- und Großhandel, dann für industrielle Betriebe.

Die Siebzigerjahre brechen an, sein Verkaufstalent macht die Runde. Obwohl asiatische Konkurrenz den deutschen Herstellern schwer zusetzt und die französische Gruppe Thomson sich neben anderen auch Nordmende und Dual einverleibt, klettert Hartenstein bei beiden Unternehmen die Karriereleiter hinauf: Verkaufsleiter in Düsseldorf, Vertriebschef in Bremen, Geschäftsführer im Schwarzwald. Dual schwingt sich zeitweise auf zum weltweit größten Hersteller von Schallplattenspielern. Und Hartenstein hilft, diese unters Volk zu bringen.

„Ich war da nicht ganz unerfolgreich“, ist eine Understatement-Variante, die er im Gespräch gerne wählt. Eins seiner Erfolgsrezepte: „Ich war so schlau und habe mich nie um Dinge gekümmert, von denen ich keine Ahnung hatte.“ Dass sich seine Kalkulationskünste auch bei den Mitarbeitern schnell herumsprechen, ist ihm bewusst: „Wenn einer sagte, er fährt morgen mit Herrn Hartenstein zur Kundschaft, war klar: Dann gibt’s zum Essen wieder nur Tankstellen-Würstchen.“ Gefühle sind dem gewieften Geschäftsmann nicht fremd. Er liest einen rührenden Abschiedsbrief der Essener Belegschaft vor, in dem sie ihm seinerzeit reichlich warme Worte und Glückwünsche auf den Weg nach Bremen mitgegeben hat. Die Eloge endet mit der Goethe-Anlehnung: „Hier war ich Mensch, hier durft ich’s sein.“

Wenn einer sagte, er fährt morgen mit Herrn Hartenstein zur Kundschaft, war klar: Dann gibt’s zum Essen wieder nur Tankstellen-Würstchen.

Klaus Hartenstein

Ein Deal mit Dual dürfte Fans wohlbekannt sein: In der Saison 1987/1988 laufen Toni Schumacher, Olaf Thon & Co. mit den vier Buchstaben auf der Brust auf. Das Geschäft als Trikotsponsor besiegelt Hartenstein mit seinem früheren Mannschaftskameraden und amtierenden S04-Präsidenten Günter Siebert sowie Manager Rolf Rüssmann. Die Liaison hält allerdings nur eine Spielzeit. Dual wird an Schneider verkauft, Schalke steigt in die Zweite Liga ab.

Im Elektronikgeschäft bahnen sich weitere Revolutionen an. Der technische Fortschritt schüttelt namhafte Größen ab, die Schallplatte droht das Rennen gegen die CD zu verlieren. Klaus Hartenstein begleitet noch den Übergang und verabschiedet sich. Anfang der Neunziger beschließt er, es sei an der Zeit, den richtigen Ruhestand auszuprobieren.

Nach seinem Abschied vom Fußball hat er um Sport zunächst einen Bogen gemacht, dann Tennis für sich entdeckt, später Golf. Das kann man auch noch mit 90 spielen, denkt er mit Anfang 60 und wundert sich schnell über die Komplexität der neuen Herausforderung: „Golf ist eine der wenigen Sportarten, bei denen man immer selbst schuld ist, wenn‘s nicht läuft.“ Sein Ehrgeiz bringt ihn bis Handicap 27. Könnte schlimmer sein. Was auch für sein bevorzugtes Grün gilt: 13 Jahre lang lebt der Rentner zeitweise auf Mallorca und genießt die Sonnenstunden mit seiner dritten Ehefrau Brigitte, einem früher bekannten Model.

Klaus Hartenstein

40 Jahre ist das Paar verheiratet. „Wir sind wie siamesische Zwillinge“, schwärmt der Gatte. Wenn man seinen Memoiren folgt, scheint er ein sehr glücklicher Mann zu sein. Aber wie im Sportlerleben musste er schlimme Rückschläge verarbeiten. Er hat seine Tochter an den Krebs verloren, kürzlich einen leichten Schlaganfall abgeschüttelt. „Man sollte trauern“, meint er, „aber das Leben muss weitergehen. Und es kann fröhlich weitergehen.“

Die Liebe zur Kultur zieht die Verdi-Liebhaber zurück nach Deutschland. In der Semperoper finden sie während acht Dresdener Jahren eine opulente Anlaufstelle. 2015 schließlich fragt seine bessere Hälfte: „Wann kann ich eigentlich in Rente?“ So führt die letzte Luftveränderung das Paar „in die schönste Seniorenresidenz Deutschlands“ – Berchtesgadener Land, perfekt gelegen zwischen Alpenpanorama und Salzburger Festspielhaus.

Dem guten, alten Fußball hat der Kulturfreund nie abgeschworen. Schalke 04 ist sein Verein geblieben, dessen Werdegang er kritisch am Fernseher verfolgt. Wenngleich die Bindung zu den übrigen Ex-Clubs lockerer ist, genießt er einen Vorteil: „Waldhof, Lautern, Schalke, Köln – einer von denen gewinnt meistens doch am Wochenende.“ Stadiongänge sind länger her, Menschenmengen nicht seins. Die VELTINS-Arena hat er zuletzt bei der königsblauen 100-Jahr-Feier besucht.

Und Trubel muss Klaus Hartenstein auch beim persönlichen Jubiläum nicht haben. Er lässt es sich mit seiner Brigitte gutgehen. Wie immer. Auch zum 90. Geburtstag gilt: kein Dinner for One.

Schalker Kreisel

Der Text ist ursprünglich im Schalker Kreisel #8 der aktuellen Saison erschienen.

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