S04 gedenkt Gabriel Bach: Die Farben der Erinnerung

Gabriel Bach leitete als stellvertretender Chefankläger die Prozesse gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann. Im Alter von 94 Jahren verstarb der in Berlin aufgewachsene deutsch-israelische Jurist nun. Der FC Schalke 04 trauert um einen der bedeutendsten Rechtsgelehrten der Nachkriegszeit – und ist zugleich stolz, ihn als einen Sympathisanten der Königsblauen gekannt zu haben.

Gerhard Rehberg und Gabriel Bach

Im Schalker Kreisel ist vor einigen Jahren eine lesenswerte Geschichte über Gabriel Bach erschienen. schalke04.de war im Archiv und hat den Beitrag aus der Saison 2013/2014 vom Heimspiel gegen den 1. FSV Mainz 05 online aufbereitet.

„Tibulsky, Schweisfurth, Szepan, Kuzorra, Bornemann, Klodt, Berg, Kalwitzki, Urban, Poertgen, Gellesch.“ Mühelos listet Gabriel Bach die Namen der Schalker Meistermannschaft von 1937 auf. Er – damals zarte zehn Jahre jung – war im Stadion, als sein Schalke in Berlin den dritten Meistertitel errang. Er – mittlerweile 34 Jahre alt – erlebte als stellvertretender Ankläger auch den Prozess des Staates Israel gegen Adolf Eichmann, der für die Nationalsozialisten den Massenmord an den europäischen Juden organisierte.

Eine schwarze Flamme, erstarrt als Glas-Skulptur. So stellt die Künstlerin den Holocaust dar. Doch es gibt einen Weg ins Licht, in die Sonne: Ein Baum steht mit seinem satten Grün für Lebensenergie. Der Preis trifft seinen Träger und dessen großes Lebensthema ausgezeichnet. Gabriel Bach hat dem Bösen in Person ins Auge geblickt. Hat sich über Abertausende Seiten in einen der tiefsten Abgründe der Menschheitsgeschichte begeben. Mit Adolf Eichmann machte Israel dem perfiden Logistiker des Holocaust den Prozess. Nach den Nürnberger Prozessen erfuhr die Welt abermals und doch in neuer Dimension, wie kaltblütig die Nazis den Völkermord an den Juden Europas als Akt vermeintlichen Staatsinteresses planten; wie systematisch und bis ins Kleinste sie ihn vorbereiteten und wie bedingungslos sie ihn durchführten. Wer sah, was Bach sah, wer hörte, was Bach hörte, muss viel Licht in sich tragen. Dieses Licht blitzt an diesem Abend, an dem ihm die Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen und für Toleranz in der Schlosskapelle der Zitadelle ihren Preis für Zivilcourage verleiht, aus seinen wachen Augen, strahlt durch seine lebhafte Stimme und seine bewegenden Worte.

Schmunzeln, als er sich an Königsblau in den 1930er-Jahren erinnert: „Ich war als Kind sehr an Sport interessiert und besonders an Schalke 04. Der FC Schalke hatte damals wie heute eine der besten Mannschaften in Deutschland. Und das Schönste: Die Trikots der Schalker hatten die gleichen Farben wie meine Schuluniform an der jüdischen Theodor-Herzl-Schule in Berlin: blau und weiß.“

Bach pflegt diese schönen Erinnerungen und teilt sie gern. Guter Gesprächsstoff, hofft Bach. Mit Schalke als Thema hat er diesbezüglich nur gute Erfahrungen gemacht: „Einmal haben mich Studenten gefragt, welche Erinnerungen ich an meine Kindheit habe. Da erzählte ich von Schalke. Einer der Studenten zog daraufhin ein königsblaues Kissen aus seinem Koffer und zeigte mir, dass er auch Schalke-Fan ist. Wenige Wochen später erhielt ich aus Deutschland ein Paket mit genau dem gleichen Schalke-Kissen, das er mir gezeigt hatte.“

Erinnerungen, die eine Bedeutung in der und für die Gegenwart erlangen, sind das große Thema seines Lebens, Bachs Mission. Seine Geschichte lässt nichts anderes zu: Gabriel Bach wächst in Berlin auf. 1938 flieht die jüdische Familie nur zwei Wochen vor der von den Nationalsozialisten zynisch bezeichneten „Reichskristallnacht“ in die Niederlande. Nur einen Monat, bevor die Deutschen in die Niederlande einmarschieren, wandert die Familie nach Palästina aus. Zuvor gelingt es dem Vater, den Rest der Familie zu retten. Wie durch ein Wunder bringt er es fertig, alle Verwandten aus den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald zu holen und ihnen Einreisegenehmigungen nach Palästina zu verschaffen. Bach ist sich bewusst, dass „unsere Familie besonders viel Glück hatte. Mein Vater hat den sechsten Sinn gehabt. Wir sind immer auf den letzten Drücker geflohen“.

Die Nazis sprachen ihren Opfern grundlegende Menschenrechte ab, sie pervertierten das Recht. Womöglich ist es diese Erfahrung, die Bach dazu bewegt, nach dem Krieg in London Jura zu studieren. 1949 erlangt er seinen Abschluss mit Auszeichnung und tritt 1953 in Israel eine Laufbahn als Staatsanwalt an. 1961 führt er als stellvertretender Chef-Ankläger den Prozess, der für immer sein Leben verändern wird. Gabriel Bach will dem Recht Geltung verschaffen. Er sammelt in den neun Monaten vor Prozessbeginn Tausende Seiten an Beweisen, bestellt über 100 Zeugen zum Prozess ein und sichtet das gesamte Material, das die deutsche Bundesregierung bereitwillig zur Verfügung stellt. Es ist ein mörderisches Bild, das von Adolf Eichmann entsteht. „Mir war wichtig, dass ich nicht nur die Zahlen erfasse, wie viele Menschen in den Gaskammern von Auschwitz und andernorts getötet wurden. Das ist theoretisch und abstrakt.“ Für ihn waren die persönlichen Geschichten nachhaltig, sie haben sich in sein Gedächtnis gebrannt. Und er hat nach der einen Geschichte gesucht, in der Menschen es geschafft haben zu entkommen. „Eines Nachts habe ich von einer jüdischen Familie geträumt, die gerettet werden konnte. Doch es war nur ein Traum. Es war nicht real. Sie alle, alle sind ermordet worden.“

Gabriel Bach sagt von sich selbst, er sei ein „notorischer Optimist“. Und das sei überlebenswichtig für ihn, denn wie sonst könne er mit dem, was er in dem Eichmann-Prozess erfahren hat, weiterleben? „Als ich später zum Generaloberstaatsanwalt des Staates Israel berufen wurde (1969, Anm. d. Red.), wurde es nicht besser: Die schlimmsten Fälle kamen immer zu mir“, fügt er mit bitterer Ironie hinzu.

Was er über den Holocaust erfahren hat, lässt ihn nicht mehr los. Wie könnte es. „Seit 53 Jahren ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an den Eichmann-Prozess erinnert werde.“ Gabriel Bach hat es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, immer und immer wieder auf die Einzelschicksale zu verweisen, von denen er 1961 erfahren hat – damit keiner behaupten kann, es sei während der NS-Zeit und in den Konzentrationslagern doch alles gar nicht so schlimm gewesen. Gabriel Bach weiß: „Es war nicht nur schlimm, sondern es war noch viel schlimmer.“ Unermüdlich reist der heute 86-Jährige, der in Jerusalem lebt, durch die Welt und immer wieder nach Deutschland, um davon zu berichten, um Einzelheiten auszubreiten und sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Bach freut sich, dass „das Interesse an meiner Person in Deutschland in den vergangenen Jahren zunimmt, und zwar nicht nur aus Höflichkeit oder weil politisch-taktische Hintergründe eine Rolle spielen. Ich erlebe sehr viel Freundlichkeit und Herzlichkeit. Denken Sie an das Schalke-Kissen.“ Wie passend, dass ihn Gerhard Rehberg, Schalkes Ehrenpräsident, nach der Dankesrede mit einem aktuellen Trikot der Königsblauen überraschen kann. Außerdem hat Rehberg eine Collage mit Fotos der Schalker Mannschaft aus den 1930er-Jahren. All die Spieler im Großformat, deren Namen Bach bis heute auswendig kennt. Und dann nimmt er sich spontan den kleinen Anstecker mit dem Vereinswappen vom Anzug und heftet ihn Gabriel Bach ans Revers. Wieder so eine Begebenheit, die – wie sein Gesicht verrät – Bach sehr erfreut, weil sie zeigt, wie die Vergangenheit die Gegenwart positiv beeinflussen kann.

„Ich habe das gute Gefühl, dass die Verantwortlichen in Deutschland alles tun, damit so etwas wie der Holocaust nie wieder passieren kann“, stellt Bach fest. Dazu gehöre nicht nur die Verurteilung all jener, die daran beteiligt waren. Es zähle auch, die Geschichte aufzuarbeiten und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Eine Mahnung, die der FC Schalke 04 bereits vor zehn Jahren ernst genommen hat, indem der Verein seine Geschichte im dunkelsten Kapitel Deutschlands in der wissenschaftlichen Studie „Zwischen Blau und Weiß liegt Grau“ hat aufarbeiten lassen; indem er für die verfolgten und ermordeten jüdischen Mitglieder der Vereinsfamilie eine Gedenktafel an der Tausend-Freunde-Mauer eingeweiht hat; indem er unermüdlich Flagge zeigt gegen Rassismus und Homophobie und jede weitere Form der Diskriminierung.

Eine andere Geschichte aus dem Eichmann-Prozess hat sich Gabriel Bach in die Erinnerung gebrannt. Als einer der letzten Zeugen befragte das Gericht einen Mann aus Ungarn, der seine Familie in Auschwitz verloren hatte. Er erzählte, wie er seine Familie in den sicheren Tod laufen sah: seine Frau, seinen 13-jährigen Sohn und seine zweieinhalbjährige Tochter in einer Gruppe von vielen Hundert Menschen, die in die Gaskammern geschickt wurden. Seine Tochter trug einen roten Mantel, ein roter Fleck inmitten der vielen todgeweihten Menschen, der kleiner und immer kleiner wurde. Bis er ganz verschwand. Nur einen Tag vor dieser Zeugenaussage hatte Bachs Frau ihm ein Foto der gemeinsamen Tochter fürs Büro mitgegeben. Darauf trug sie ihren neuen roten Mantel. „Bis heute bekomme ich Herzklopfen, wenn ich in ein Restaurant oder Fußballstadion gehe und dort ein kleines Mädchen in einem roten Mantel sehe.“ Blau, weiß und rot. Schöne Erinnerungen und schwere Erinnerungen, die Gabriel Bach sein Leben lang begleiten.

Der FC Schalke 04 wird Gabriel Bach stets ein ehrendes Andenken bewahren.