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Raffael Tonello: Es gibt keine bessere Plattform als den S04
Seit Ende März ist Raffael Tonello auf Schalke. Über Schalke musste man ihm nicht viel erzählen, die Wege haben sich bereits sehr früh gekreuzt. Als Sportlicher Leiter Knappenschmiede und Top-Talente-Scout soll der 48-Jährige im Zusammenspiel mit Ben Manga und Marc Wilmots neue Spieler für Königsblau gewinnen.
Er ist keiner, der sich sehnlichst für einen Fotografen in Pose wirft, muss Raffael Tonello nicht erst betonen. Ein eher sympathischer Wesenszug. Im langen Gespräch über den Werdegang und seine Vorstellung von Fußball, blitzt dagegen schnell auf, wofür sein italienisch geprägtes Herz brennt. Und beim Vorgeplänkel am Tag des Europa-League-Finales streift man irgendwann unweigerlich die Eurofighter. „Ich meine, in der Saison haben wir mit Fortuna Düsseldorf sogar im Parkstadion gegen Schalke gewonnen“, sinniert er. Stimmt tatsächlich, mit 1:0, nur wenige Tage vor dem größten Triumph der königsblauen Geschichte. Für den Profi ist es in jenem Mai 1997 nicht der erste Besuch in der Betonschüssel. Als Kind heißt sein Verein: Schalke 04.
Nicht weit entfernt kommt Tonello 1975 in Mülheim an der Ruhr zur Welt, die Eltern sind aus Italien eingewandert, Mutter aus dem Süden, Vater vom Norden stammend, dazu Onkel, Tante, alle ins Revier gezogen. Man dürfe ihn gerne als Pottpflanze bezeichnen, meint er. Typisch italienisch schlage sein Herz, der Kopf aber sei deutsch geprägt. Was das heißt? Wie oft polterten Akteuren direkt nach Schlusspfiff Sätze heraus, die sie kurz darauf gerne wieder einfangen würden, sagt Tonello: „Im Profisport musst du einen klaren Kopf bewahren und weniger aus Emotionen handeln, weil zu viele Prozesse berücksichtigt werden wollen.“ Doch dazu später.
Das mit dem italienischen Herzen führt die Familie in den 1980er-Jahren auf Schalke. Wenn nicht gerade Zugpferde gastieren, sind die Arenen oft dürftig gefüllt. „Deswegen sind wir oft zum Parkstadion gefahren, hier war öfter was los“, sagt Tonello und denkt an 40.000 Zuschauer im pladdernden Regen ebenso wie an „Remmidemmi hinter den Kulissen“, Olaf Thon, Manni Drexler, Sascha Borodjuk. Sein erstes Mal ist 1984 Schalkes Jubiläumsspiel zum 80. Geburtstag gegen Inter Mailand, großer Schwarm des jungen Fans, als Karl-Heinz Rummenigge das Trikot des Clubs überstreift und diesen via Sportschau regelmäßig in deutsche Wohnstuben bringt. Beim MSV Duisburg schaut er dann auch mal vorbei, in Essen und Oberhausen, mit den Knappen hingegen sind seine meisten Erinnerungen verklebt wie seinerzeit die Panini-Sammelbilder mit der Kinderzimmertapete. Borussia Dortmund, übrigens, hätte man zu den Zeiten als Mülheimer kaum wahrgenommen.
Im Profisport musst du einen klaren Kopf bewahren und weniger aus Emotionen handeln, weil zu viele Prozesse berücksichtigt werden wollen.
Mit 09 verbindet er den TuS Union, wo er selbst kickt. Als Gymnasiast und Sturmtalent wechselt er zur Fortuna aus Düsseldorf, pendelt mit Bus und Bahn zum Training, durchläuft die Jugendmannschaften, Amateure, rückt 1993 in den Dunstkreis der Profis unter Chef-Coach Aleksandar Ristic. Zweite Liga, Bundesliga, der Weg führt bald nach oben. In der Kabine lernt er Ben Manga kennen, man versteht sich sogleich, auch auf dem Platz. Manga flankt von links, Tonello trifft ins Tor, es läuft nicht schlecht, bis nichts mehr geht. Drei Kniescheibenbrüche wie der Mannschaftskollege kann er nicht vorweisen, doch im April 1996 zerbröselt eins seiner Knie. Drei Operationen später hat sich Fußball auf Top-Niveau arg früh erledigt.
Um eine Frage kommt man schwer herum: Hätte der Scout Tonello den Spieler Tonello auf dem Zettel gehabt? „Ich glaube ja, wenn auch nicht als Option Nummer eins“, antwortet er. „Ich war schon immer ruhig und reflektiert, nicht besonders schnell, groß oder kräftig, aber ich hatte einen guten linken Fuß, konnte Bälle absichern, mitdenken. Ich bin eher über Instinkt zum Bundesliga-Spieler geworden.“ Nach dem Kniefall spielt er noch ein paar Jahre, Dritte Liga „mit nur einem gesunden Bein“. Mit 26 landet er noch bei Eintracht Frankfurt II und lässt es ein Jahr darauf gut sein.
Wenn eine Karriere unplanmäßig endet, wenden sich viele erst mal ab vom Fußball. So auch Raffael Tonello. Zu viele Enttäuschungen, Schmerzen, Seelenwunden. Er absolviert den Sportfachwirt, macht sich selbstständig in Frankfurt, bleibt mit der Eintracht lose in Kontakt. Vorstand Axel Hellmann bittet Tonello irgendwann um seine Einschätzung zu einem Scouting-Experten namens Ben Manga: „Direkt unterschreiben!“, sagt er. „Einen Mann auf dem Niveau habt Ihr noch nie gehabt.“ Türen öffnen sich, auch für ihn. Manga unterschreibt, holt Tonello ins Sichtungs-Team, der alsbald wieder sehr oft Fußballspiele sehen und mitverantwortlich sein wird für viele aufsehenerregende Transfergeschäfte.
Tonello nennt Manga seinen Ausbilder: „Uns verbindet eine ähnliche Prägung, die Art, wie wir Fußball sehen. Wir streiten auch, denn jeder soll einen eigenen Ansatz haben. Aber durch Reibung entsteht etwas.“ Das geben sie ebenfalls ihrem wachsenden Netzwerk an Scouts weiter. Jede(r) soll vollumfänglich die persönliche Meinung vertreten, um schließlich im Vier- oder Sechs-Augen-Gespräch zu bestehen: starke Persönlichkeiten, erfahrene Leute, die ihre Vorgaben genau kennen: „Durch Spezialisten für den jeweiligen Markt minimieren wir den Zeitverlust. Das ist der Schlüssel des Erfolgs. Wenn mir jemand einen Namen zuruft und ich dann jedes Mal hinfliege, um den Spieler zu beobachten oder mit der Familie und dem Berater zu sprechen, dann ist die Messe gelesen.“
Als Schalker wird Tonello auch auf die Piste gehen, aber meist an den Wochenenden, dazwischen müssen Entscheidungen auf der Geschäftsstelle her. Wenn er Spieler im Stadion beobachtet, bleiben Notebook oder Zettelwirtschaft erst mal in der Tasche. Er will das Spiel aufsaugen, es auf sich wirken lassen. Am Ende dokumentiert er die Details, ehe „das Beste“ kommt, wie er sagt und die Begründung mit dezenten Fingerschnippsern untermalt: „Abends, nachts, morgens beim Zähneputzen, dann poppt aus dem Hinterkopf ein Spieler noch mal auf, und du weißt: Genau den brauchen wir, den müssen wir holen.“
Abends, nachts, morgens beim Zähneputzen, dann poppt aus dem Hinterkopf ein Spieler noch mal auf, und du weißt: Genau den brauchen wir, den müssen wir holen.
Auf Schalke sollen Nachwuchsleistungszentrum und Profibereich noch enger miteinander verzahnt werden, so lautet der Auftrag an Ben Manga als Direktor für Kaderplanung, Scouting und Knappenschmiede sowie Raffael Tonello. Trotz der sportlichen Entwicklungen in den vergangenen Jahren ist ja längst nicht alles schlecht gewesen: „Die Knappenschmiede hat Erfolge gefeiert, eine gewisse Durchlässigkeit war immer gegeben“, meint der 48-Jährige. „Mit Norbert Elgert in der U19 haben wir eine Koryphäe, was Ausbildung und Wertevermittlung betrifft, und auch in der U23 und U17 arbeiten gute Trainer, die ihren Weg gehen werden. Wir analysieren gleichzeitig, was weniger gut lief, und werden Sachen verändern, damit alle noch besser performen können. Das geht nur gemeinsam, deswegen muss hier ein Wir-Gefühl entstehen.“
Viele Jahre hat die Konkurrenz anerkennend rübergeschaut auf die königsblaue Ausbildungszentrale. Inzwischen verfügen allein im Umkreis Leverkusen oder Dortmund über deutlich größere Budgets, Bochum kommt näher, Düsseldorf. Das Schalker Argument heißt: Spielzeit. „Es gibt keine bessere Plattform als den S04“, betont Tonello, „denn für einen jungen Spieler besteht hier die Möglichkeit, dass sein Traum in Erfüllung geht.“ Nie seien die Mannschaften so eng beieinander gewesen, statt üppiger Kontrakte lockt die Perspektive Profifußball, und die sei unbezahlbar. Auch künftig wird nicht jedes U19-Talent den großen Sprung schaffen, doch an den Profiverträgen für Vitalie Becker, Emmanuel Gyamfi, Tristan Osmani und Taylan Bulut war jüngst abzulesen, dass sich der Weg lohnt.
Weil Talent nicht alles ist, orientieren sich die Experten im Findungsprozess für Profis wie U-Mannschaften auch an ihrer eigenen Ausbildung: Mentalität, Prägung, Resilienz sind entscheidende Faktoren, Attribute wie Zuverlässigkeit, Wettkampfhärte, physische Konsistenz, Gier. „Bei 25 Spielern geht es natürlich nicht nur darum, aber beim Großteil müssen diese Faktoren intrinsisch sein“, betont Tonello, „dann passen auch ein, zwei Künstler ins Gefüge.“ Sogar ein paar sprichwörtliche, nun ja: Hinterteile dürften gerne dabei sein, aber nur, solange sie das nur auf dem Platz ausleben. Gennaro Gattuso von der AC Mailand war früher so ein Modell, inbrünstig verachtet von der Gegnerschaft, und doch hätte jeder ihn gerne in seiner Elf gehabt. In Frankfurt schätzte Tonello beispielsweise Ante Rebic, „ein Junge ohne Angst“, der draufgegangen ist im Rahmen des Erlaubten.
Über der VELTINS-Arena wabert die Mär, dass jeder Anhänger zufrieden ist, wenn er ein Paar ordentliche Grätschen serviert bekommt; doch denken sich die meisten sehr wohl gerne zurück in Zeiten, als auf Schalke auch gezaubert wurde. Die Wahrheit der näheren Zukunft soll in der Mitte liegen: „Wir wollen fußballerische Akzente setzen, aber man kann sich nicht mehr nur darauf verlassen“, erklärt Tonello. Der Fokus liegt auf charakterstarken Spielern als Achse, „dazu einige Künstler einzubauen, die das Spiel zelebrieren, das ist doch genau, was wir alle wollen. Aber wir können nicht mit den Künstlern anfangen und dann mal schauen. Das wird nicht funktionieren.“ Stabilität bedeute nicht gleich hässlichen Fußball, schiebt er nach: „Wir werden trotzdem attraktiv spielen, aber die Jungs wissen, dass nach jedem verlorenen Zweikampf oder Fehlpass ebenfalls mit der richtigen Einstellung verteidigt werden muss. Auch im künftigen Profikader wird es viele gute Fußballer geben, die wir gemeinsam mit dem Trainerteam zu einer Einheit formen müssen.“
Wer die Zweite Liga nicht annimmt, kann sehr hart landen. Das hat die abgelaufene Saison eindrucksvoll verdeutlicht. Seit Ende März ist Raffael Tonello im Amt. Er hat das positive Gefühl, dass sich im Verein und – auf Schalke nicht ganz unwichtig – drum herum die Wahrnehmung verschoben hat: „Ein Unentschieden in Elversberg oder ein Punkt zu Hause gegen Düsseldorf wurden in der Situation als Erfolg verbucht. Wir waren mal in der Champions League, aber aktuell sind wir ein Zweitligist, der 32 Spieltage lang gegen den Abstieg in die Dritte Liga gearbeitet und gekämpft hat. Wenn wir das verinnerlichen, dann haben wir den Boden gefunden, um uns zu stabilisieren. Danach müssen wir ihn fruchtbar für die Zukunft machen.“ Tonello weiß, wie schwer das ist in einem so großen wie emotionalen Verein, doch wie drückt man Alternativlosigkeit aus, wenn man dieses doofe Wort nicht strapazieren mag? Vielleicht so: „Es wäre fatal, wenn wir das nicht hinkriegen würden.“
In seinem nicht zu großen Büro auf der dritten Geschäftsstellenetage wird es manchmal fast kuschelig, wenn Raffael Tonello sich austauscht mit Sportdirektor Marc Wilmots und Ben Manga. Der Austausch funktioniert offensichtlich, er soll auch vorgelebt werden im gewollten Aufbau des Miteinanders auf verschiedenen Ebenen: „Hier fängt keiner an zu spinnen. Wir müssen uns auf Tugenden besinnen: Zusammenhalt, eine Top-Kaderhygiene.“ Wenn die Tür ins Schloss fällt, geigen sie sich durchaus mal die Meinung. Geht es kontrovers und dennoch konstruktiv zu, ist es perfekt für ihn, denn dann kommen Prozesse ins Rollen.
Hier fängt keiner an zu spinnen. Wir müssen uns auf Tugenden besinnen: Zusammenhalt, eine Top-Kaderhygiene.
AC/DC haben gerade Gelsenkirchen verlassen, standesgemäß mit Knalleffekt. Tonello war diesmal nicht drüben in der Arena. Nach einem langen Tag auf Schalke hat er genug AC/DC gehabt und freut sich auf seine Koje, sagt er und lacht. Er wohnt wieder in Mülheim, im Elternhaus, und sucht eine Bleibe, damit seine Frau und die Zwillinge aus Frankfurt hochkommen können. Sein zehnjähriger Sohn wird wohl eher kein Kandidat für die Knappenschmiede, glaubt der Papa, bei ihm laufen lieber Computersachen. Gegen Rostock waren die Kinder im Stadion und schnell „geflasht“: „Sie waren in London und Frankfurt auch beim Fußball, aber Schalke hat eine andere Wucht“, erklärt Tonello und öffnet ein Handyfoto vom Junior mit S04-Schal auf dem Schulweg. So soll das sein.
Qua Herkunft ist Raffael Tonello nicht nur dem Fußball zugeneigt, sondern auch Fan des italo-amerikanischen Filmkanons, „Der Pate“ und sowieso alles von De Niro, Pacino, Scorsese. Viel plastisch veranschaulichte Wahrheit sei da zu finden zur Historie und Anpassungsfähigkeit der Einwanderer. Das hat ihn bereits im Geschichtsunterricht interessiert, Migration aus dem Land seiner Vorfahren, industrielle Revolution in seiner deutschen Heimat: „Irgendwann fragst du dich ja: Wo komme ich her, warum bin ich, wie ich bin?“ 20 Jahre lebte er nicht im Ruhrpott und ist mit dem Herzen direkt wieder dabei gewesen, hat er gemerkt. Gute Voraussetzungen für die Arbeit im königsblauen Epizentrum.