Volkan Ünlü - das vierte Spiel

Man kann einen Text über Volkan Ünlü eigentlich nur mit diesem schicksalhaften Spiel am 27. März 2004 beim VfL Bochum beginnen: Das damals 20-jährige Talent vertritt Frank Rost im Schalker Tor. Ünlü wirkt hypernervös, verschuldet den Gegentreffer, die Heimfans verspotten ihn bei jedem Ballkontakt. Kurz vor Schluss hält er plötzlich den 2:1-Sieg fest und weint anschließend vor der Kurve. Er wird nie wieder in einem Bundesliga-Tor stehen. Für die meisten endet seine Geschichte hier – für ihn selbst beginnen Jahre des Suchens und Findens.

Ünlü weiß, dass ihn dieser Nachmittag nie wieder loslassen wird. Ob man darüber sprechen könne? „Klar“, sagt er. „Ich hatte damals nie wirklich Gelegenheit dazu.“ Kaum jemand fragt, er ist kein Lautsprecher. 13 Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen ist er 34, Torwarttrainer in der Knappenschmiede und sitzt im Trainingsanzug in der Gaststätte auf dem Vereinsgelände. Zu Hause sozusagen.

Der Deutsch-Türke wird 1983 in Gelsenkirchen geboren und wächst im Stadtteil Schalke auf, ein paar hundert Meter entfernt von den Familien Özil, Gündogan und Altintop. Er spielt als Mini-Kicker beim S04, wird später als Feldspieler aussortiert, schult beim SV Höntrop um und kehrt in der U16 als Torwart zurück. „Meine ganze Kindheit verbinde ich mit Schalke“, betont Ünlü. „Ich kenne hier jeden Stein, jeden Geruch.“ Er fiebert als Fan mit. Nach Heimspielen streunt er mit Kumpels übers Vereinsgelände und sammelt aus Spaß Pfand. Das alles sei wichtig, um zu verstehen, warum es so gelaufen ist, wie es gelaufen ist.

Für den Jungen aus Gelsenkirchen wird ein Traum wahr, als er 2002 Profi bei den Knappen wird. Im ersten Jahr ist er die Nummer vier hinter Frank Rost, Oliver Reck und Christofer Heimeroth. In der zweiten Saison – Jupp Heynckes ist inzwischen Trainer – kriegt er seine Chance, als Rost sich verletzt. Er absolviert drei Spiele, alle ordentlich. Der Coach mag ihn, der Vertrag des Talents wird vor seinem ersten Einsatz verlängert. Ünlü spürt aber, dass etwas nicht stimmt. Er hat Probleme mit dem Gesäßmuskel. „Das vergessen ja viele!“, erzählt er. Vor der Partie gegen Bochum bekommt er Spritzen. Eigentlich, sagt er heute, sei er nicht in der Lage gewesen zu spielen. Mit einem schlechten Gefühl geht er auf den Platz. Er kann keine langen Bälle schlagen – und wird immer nervöser.

Es ist ein wichtiges Duell, schließlich geht es um den Einzug in den Europapokal. Ünlü will nicht kneifen. Er will seine Chance nutzen und Heynckes‘ Vertrauen zurückzahlen. Das des Vereins sowieso. „Ich habe das auch für Schalke gemacht“, betont er. „Mir hat das viel bedeutet.“ In der Kabine meint der Trainer später: „Du spielst auch gegen Hamburg.“ Er will ihm Sicherheit geben. Doch die Ärzte sagen Nein. Ünlü fällt ein halbes Jahr aus. Als er zurückkehrt, ist mit Ralf Rangnick ein neuer Coach verantwortlich und für den Keeper kein Platz mehr.

War sein Pfad bislang recht geradlinig, warten nun die Serpentinen. Ünlü, der türkische Junioren-Nationalspieler, träumt von der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Deshalb wechselt er zu Besiktas Istanbul. Es läuft nicht. Er fühlt sich als Deutsch-Türke fremd in der Heimat seiner Großeltern. Er ist unzufrieden – mit den Bedingungen und mit sich selbst – und hat Probleme mit einem Gleitwirbel. Ünlü trainiert und spielt kaum. Das Missverständnis endet im Januar 2007. Nach sechs Monaten bei Caykur Rizespor folgt eine gute Zeit mit vielen Einsätzen bei Sivasspor Kulübü. Als der Club in einen Wettskandal verwickelt ist, löst der Keeper seinen Vertrag auf und geht in die niederländische Zweite Liga zum MVV Maastricht; eigentlich nur, um näher an Gelsenkirchen und seiner Familie zu sein.

Meine ganze Kindheit verbinde ich mit Schalke.

Volkan Ünlü

Dann spielt er ein letztes Mal in der Türkei bei Trabzonspor und 1461 Trabzon, ehe er seine Karriere in der Regionalliga bei der SG Sonnenhof-Großaspach und beim KFC Uerdingen ausklingen lässt. Es sind Gefälligkeiten für Bekannte. 2014 beendet er seine Profi-Laufbahn und kickt seither wieder in Gelsenkirchen, für Arminia Ückendorf. Auf Asche, in der Kreisliga – und wie früher als Kind – im Sturm.

„Gescheitertes Talent.“ Irgendwann im Gespräch wählt Ünlü in einem Nebensatz diese Worte. Ist er das? Er sagt nicht Ja, nicht Nein. „Wenn ich sehe, welche Möglichkeiten ich hatte; dass ich schon mit 20 Jahren in der Bundesliga gespielt habe und nur auf vier Spiele gekommen bin, dann ist das schon wenig“, findet er, und dass dieses vierte Spiel in Bochum im Nachhinein unnötig gewesen sei. „Die drei Punkte haben mich vielleicht meine Karriere gekostet“, sagt er. Auf der anderen Seite empfindet er es als Glück, es zu den Profis geschafft zu haben. Bei seinem Verein, bei Schalke 04. „Ich habe es genossen“, erklärt er. Und wenn er noch einmal vor der Entscheidung stehen würde, ob er spielen solle oder nicht? „Dann würde ich es immer wieder so machen.“ Er klingt dabei nicht verbittert, sondern wie jemand, der seinen Weg akzeptiert hat: „Ich habe eine innere Ruhe gefunden.“

Während sich Beobachter, Journalisten und Fans an den jungen, den weinenden Ünlü von 2004 erinnern und ihn als eine der tragischen Figuren im Geschäft wahrnehmen, als einen von denen, die es eben nicht geschafft haben, ist der Volkan Ünlü von 2017 angekommen. Auf Schalke, in der Knappenschmiede. Dort, wo alles begann. 2014 holt ihn der damalige Profi-Torwarttrainer Holger Gehrke zurück in den Club. Er wird Stand-by-Spieler bei der U23, dann Torwarttrainer der U17-Mannschaft, seit Sommer hauptamtlich. In diesem Beruf sieht er seine Zukunft. Seine Erfahrungen, glaubt er, werden ihm dabei helfen. Er weiß, wie schnell es geht, was echte Rückschläge sind und dass man immer auch „seinen Kopf trainieren sollte“.

Während seiner Zeit in der Türkei macht er das Abitur und die Hochschuleignungsprüfung. In Deutschland wird nicht alles anerkannt, deshalb hat er sich kürzlich dazu entschlossen, die 13. Klasse nachzuholen. Mit 34 drückt er also wieder die Schulbank, teilweise mit Jugendlichen, die fast halb so alt sind. Manchmal muss er sich dazu zwingen. Auch deswegen lautet sein Rat an junge Spieler: „Schule zu Ende bringen. Ich würde alles mitnehmen, jeden Abschluss, der möglich ist, und jede Trainingsstunde. Ich würde nichts herschenken.“ Er selbst hat damals sein Fachabitur abgebrochen. „Das“, betont Ünlü, „bereue ich heute mehr als das Spiel in Bochum.“

Seite teilen