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DFL-Delegation in Israel: „Wenn der Krieg überstanden ist, fahren wir nach Schalke!“
Im Mai 2024 reiste eine Delegation der Deutschen Fußball Liga (DFL) auf Einladung des World Jewish Congress für fünf Tage nach Israel, traf Zeitzeugen und für immer traumatisierte Menschen. Vom FC Schalke 04 nahm Thomas Spiegel aus der Arbeitsgruppe #STEHTAUF teil. Im Vereinsheim schildert er seine Eindrücke.
Was war der Anlass für den Besuch in Israel?
Auf diese Weise haben sich die Gastgeber für die Anteilnahme und Solidarität bedankt, die ihnen zahlreiche Vereine der Bundesliga und nicht zuletzt deren Fans nach den barbarischen Terrorakten am 7. Oktober 2023 in Israel entgegengebracht haben. In vielen Stadionkurven erinnerten die Anhänger in den folgenden Wochen und Monaten an israelische Fans deutscher Clubs, die von der Terror-Organisation Hamas in den Gazastreifen entführt worden sind. Einige sind dort bereits ums Leben gekommen, das Schicksal vieler anderer ist völlig ungewiss. Die DFL hat auf diese Reise bewusst Mitarbeiter aus den Vereinen eingeladen, die sich mit ihrer Arbeit aktiv gegen Antisemitismus einsetzen. So durfte auch ich teilnehmen, was ich als große Ehre empfunden habe.
Gibt es denn Schalke-Fans in Israel?
Andere Clubs finden aktuell größeren Zuspruch aufgrund deren Engagements und Erfolgs in den vergangenen Jahren. Dass sich die Fans von Werder Bremen etwa so resolut und lautstark für die nach Gaza verschleppten Anhänger Inbar Heimann und Hersh Goldberg-Polin einsetzen, hat ihnen in Israel große Sympathien eingebracht. Man weiß inzwischen, dass Inbar getötet wurde. Von Hersh gab es Anfang Mai noch Lebenszeichen, als er – sichtlich körperlich malträtiert – in einem Propagandavideo auftreten musste.
Aber natürlich gibt es S04-Fans auch in Israel. Im März 2023 zum Beispiel haben uns drei Mitarbeiter der Internationalen Bibliothek von Jerusalem besucht, die für ein Forschungsprojekt bei Fußballvereinen in NRW recherchierten. Weil es zeitlich passte, haben wir ihnen den Besuch des Derbys in der Arena ermöglicht. Seitdem sind sie Schalke-Fans, weil sie von der Stimmung im Stadion so begeistert waren. Sie haben mir in der vergangenen Saison viele großartige Nachrichten geschickt, als sie sich die Spiele am Fernseher anschauten und uns im Kampf um den Klassenerhalt die Daumen drückten. Sie sagen: „Wenn der Krieg überstanden ist, besuchen wir wieder Deutschland, essen Currywurst und fahren nach Schalke.“
Ich habe Dinge gesehen und durfte Menschen kennenlernen, die ich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen werde.
Welche Eindrücke haben sich dir in den fünf Tagen vermittelt?
Ich habe Dinge gesehen und durfte Menschen kennenlernen, die ich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen werde. Unmittelbar nach der Ankunft haben wir in Tel Aviv den „Hostage Square“, also den Platz der Entführten besucht und mit deren Angehörigen gesprochen. Es sind würdevolle Menschen, jedoch drückt ihre ganze Körpersprache Verzweiflung aus, weil sie um ihre Brüder, Schwestern, Väter, Nichten, Neffen bangen. Ich fand es überaus bemerkenswert, dass sie in gleichem Maße Empathie mit dem Leid der Zivilbevölkerung in Gaza zeigten.
Ihr einziges Anliegen ist es, etwas über das Schicksal ihrer Liebsten zu erfahren, vor allem Aufmerksamkeit dafür zu bekommen und sich für deren Freilassung einzusetzen. Die mörderischen Attacken des 7. Oktober haben sie auf vielfältige Weise traumatisiert: zuerst die Gräueltaten selbst, aber ebenso die Empathielosigkeit, mit der viel zu viele weltweit, die sich sonst für die Unterdrückten aller Welt zurecht einsetzen, diese Verbrechen relativieren, sie sogar anzweifeln, obwohl die Mörder ihre Taten gefilmt haben.
Diejenigen, deren Mantra sonst „Glaubt den Betroffenen“ lautet, rückten am 7. Oktober davon ab und halten plötzlich absurdeste Einlassungen der Täter für plausibel. Von solchen Leuten fühlen sich sehr viele in Israel im Stich gelassen, besonders diejenigen, die sich immer für eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts eingesetzt haben. Umso wichtiger waren für sie die Rückmeldungen aus Deutschland, nicht zuletzt aus dem Fußball, die überwiegend ganz anders ausfielen.
Was bleibt noch nachhaltig haften?
Die Begegnung mit Ayelet und Or Schachar-Epstein, die ihren Sohn Netta beim Terrorangriff auf ihr Kibbuz Nir Oz verloren. Netta war Torwart, begeisterter Hobby-Bierbrauer und jemand, dem es wichtig war, dass sich jeder in einer Gemeinschaft wohlfühlt. Seine Mutter Ayelet hat so liebevoll über ihren Sohn gesprochen, dass allen Zuhörern die Tränen kamen. Er ist gestorben, weil die Terroristen immer wieder Handgranaten in seinen Bunker warfen. Einige konnte er rauskicken – die letzte nicht, weil sie „abgefälscht“ wurde, er sie dadurch nicht gleich nach draußen befördern konnte. Also warf er sich darauf wie ein Keeper und rettete so seiner Verlobten das Leben.
Netta war BVB-Fan. Den Eltern hat es ungeheuer geholfen, dass ihnen die Fans bei einem Heimspiel in ihrer Anwesenheit ihre Anteilnahme an seinem Tod ausdrückten. Nie war ein „You’ll never walk alone“ im Dortmunder Stadion tröstender als an diesem Tag.
Äußerst einprägsam war auch die Begegnung mit Dean, der Sicherheitsbeamter auf dem Nova Music Festival war. Er hat nur überlebt, weil die Mörder das Kaktusgebüsch nachlässig durchsuchten, in dem er sich versteckt hielt. Er berichtete von den planvollen Tötungen, den Schüssen, vom Gelächter der Mörder während der Erschießungen, das er mitanhören musste. Sie haben auch versucht, Menschen aus ihren Verstecken herauszulocken, indem sie sich als Israelis ausgaben. Dean überlebte wie durch ein Wunder. Seitdem setzt er sich für die Freilassung seines besten Freundes ein, der mit ihm beim Festival Dienst tat und nach Gaza verschleppt wurde.
Es war für mich als Schalker sehr bewegend, in diesen monströsen Aufzeichnungen der namentlich bekannten Millionen Opfer den Namen unseres Jugendspielers Ernst Alexander und seiner Familie zu finden.
Was war noch Teil dieser Reise?
Der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Es war für mich als Schalker sehr bewegend, in diesen monströsen Aufzeichnungen der namentlich bekannten Millionen Opfer den Namen unseres Jugendspielers Ernst Alexander und seiner Familie zu finden.
Auch die Häftlingsmütze von Werner Sauer war zu sehen, dem Sohn von Schalkes Großmetzger Leo Sauer, der 1934 zur ersten Deutschen Meisterschaft vor lauter Freude ein Ferkel blau und weiß anstrich und über den Schalker Markt laufen ließ.
Dazu das Gedenken an Janis und Johanna Lipke. Beide lebten in Riga, wohin zahlreiche Gelsenkirchener 1942 deportiert und die meisten ermordet wurden. Janis und Johanna haben dort unter größter Gefahr vielen Menschen das Leben gerettet. Über ihre Heldentaten haben wir auf einer Reise mit Fans nach Riga erfahren.
Und ihr durftet den letzten Überlebenden des Aufstands im Warschauer Ghetto treffen …
Genau, Michael Smuss. Er ist inzwischen 98 Jahre alt und erzählte seine Lebensgeschichte, wechselte dabei unwillkürlich vom Deutschen ins Englische und Hebräische. Die ersten beiden Sprachen vermag ich zu beurteilen: Er tat dies makelloser als jeder Simultan-Dolmetscher. Die Zuhörer in der Deutschen Botschaft hingen über eine Stunde an seinen Lippen.
Es übersteigt meine Vorstellungskraft, wie jemand, dem so großes Leid angetan wurde, in seinen Schilderungen selbst kleinste Erleichterungen seiner Peiniger anerkennen konnte. Als er sich in diesem Gespräch mit Botschafter Steffen Seibert an die Momente unmittelbar nach seiner Befreiung erinnerte, wo ihm ein Bauer Milch zu trinken gab, verband er dies mit seiner Mutter. Er sagte: „Erst da fiel mir auf, dass ich vier Jahre – seit der Trennung – nicht an sie gedacht hatte.“ Als wäre die Zeit stehen geblieben, brach er zum einzigen Mal in bittere Tränen aus. Für jeden im Raum war es in diesem Moment 1945, alle haben mit ihm geweint. Solche Eindrücke vergisst man sein ganzes Leben nicht.
Welches Fazit ziehst du nach dieser Reise?
Dass nur „Nie wieder“ zu sagen nicht reicht, im Gegenteil sogar zu einer Floskel verkommt, wenn einem die Nachfahren der Überlebenden des Holocaust – denn die leben in Israel – egal sind. Dann äußert man es besser gar nicht.
Auf Schalke sagen wir mit Elie Wiesel: „Nie wieder gleichgültig sein!“ Das sind große Worte, und sie müssen dem Leid aller Betroffenen auf allen Seiten gelten, auch im aktuellen Hamas-Israel-Krieg. Ein Fußballverein wie Schalke 04 kann diesen Konflikt nicht lösen. Aber es sind manchmal die kleinen Dinge, die eine große Wirkung haben.
Beim Rückflug aus Tel Aviv stand beim Einchecken hinter uns ein Passagier, der sich als Schweizer Israeli aus New York erwies, circa 30 Jahre alt. Er sprach ebenso Deutsch mit Schweizer Akzent wie New Yorker Englisch. Wir kamen ins Gespräch wegen des Fußballtrikots eines Delegationsmitglieds. Sofort fragte er nach Werder Bremen, denn sein Cousin, bester Freund von Hersh Goldberg-Polin, ist ebenso Geisel in Gaza. Am Ende des sehr freundlichen Gesprächs meinte er: „Nach dem 7. Oktober waren viele große Sportligen sehr still. Ihr nicht. Ihr habt immer wieder an die Geiseln erinnert. Das haben hier in Israel alle wahrgenommen. Wir werden das nie vergessen.“